Wenn Du ein Gärtchen hast und eine Bibliothek wird dir an nichts mangeln.
(Cicero)
Mit weniger mehr erreichen?
Wenn Verzicht keine Entsagung ist.
Ist grenzenloses Denken unser Schicksal? Auf einer wissenschaftlichen Tagung in Rom äußerten der Italiener Aurelio Peccei und der Schotte Alexander King im Jahre 1969 ihre Besorgnis über die Nebenwirkungen des ungezügelten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wachstums. Diese Fragestellung des Club of Rome ist heute nicht nur weiterhin aktuell, sondern sie ist sogar noch dringlicher geworden: Müssen dem ständigen Streben des Menschen nach Wachstum Grenzen gesetzt werden? Dies ist keine Frage unserer Zeit. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. thematisierte der griechische Tragödiendichter Sophokles diesen Kolonisierungsdrang des Menschen in seiner Tragödie Antigone:
„Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.
…
Die unverderbliche, unermüdete
Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge,
Von Jahr zu Jahr,
Treibt sein, Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht’,
Und leichtträumender Vögel Welt
Bestrickt er, und jagt sie;
…
Der kundige Mann,
Und fängt mit Künsten das Wild,
Das auf Bergen übernachtet und schweift.
Und dem rauhmähnigen Rosse wirft er um
Den Nacken das Joch, und dem Berge
Bewandelnden unbezähmten Stier.“
(Übersetzung: Friedrich Hölderlin)
Im ersten Probejahr der European Alpine Academy dreht sich alles um die Frage, ob weniger nicht doch mehr ist? Nicht mehr wollen – verzichten können ist eine Mächtigkeit, die wir Menschen uns wieder angewöhnen müssen. Indem wir uns nicht im Vielen verlieren, finden wir uns vielleicht im Nächsten wieder.
Wir leben in einem Zeitalter des Verlustes. Es war Cézanne, der diesen Schwund als Künstler schon früh verspürt hatte: „Alles verschwindet. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. “Bienenvölker, ganze Insektenpopulationen, die Vielfalt der heimischen Fauna und Flora entschwinden vor unseren Augen. In der Kulturwelt ist der Schwund der Vielfalt ebenso sichtbar. Nicht nur Mundarten sterben aus, täglich verschwinden Sprachen und somit ganze Kulturen. Wir thematisieren diesen Sachverhalt, indem wir uns dieses Jahr mit der Bedeutsamkeit der sogenannten kleineren Sprachen für die Weltkultur befassen werden.
Sommerschulen, Ausbildungsbetriebe und Fortbildungseinrichtungen gibt es zur Genüge. Was fehlt, ist eine Institution, die Menschen aus aller Welt zusammenbringt, um sich im Anderen wiederzufinden. Denn Mensch sein ist nichts Gegebenes. Es ist eine Aufgabe. Es gilt also eine Akademie für unsere Zeit zu gründen, deren Ziele außerhalb der Wachstumslogik liegen. Im Herzen des Menschen ist noch viel Platz. So hat es Moses Mendelssohn empfunden, als er sagte, dass die Bestimmung des Menschen in einem anderen Streben zu erkennen ist:
Nach Wahrheit forschen
Schönheit lieben,
Gutes wollen,
Das Beste Tun.
Aus diesem Grunde haben sich unter der Federführung der James Loeb Gesellschaft Viele gefunden, die dieses Vorhaben zum Erfolg führen wollen. Nächstes Jahr ist die Harvard University mit dabei. Dieses Jahr sind die Universität Paderborn, die schwedische Universität Göteborg mit ihrem Center for Critical Heritage Studies, das renommierte St. John`s College aus den USA, die Ettaler Timaios Gesellschaft, das Fremdspracheninstitut der Landeshauptstadt München sowie die Staatliche Antikensammlung der Landeshauptstadt München als Gründungsinstitutionen vertreten. Die diesjährigen Teilnehmer aus Griechenland, Kroatien, Kuwait, den Vereinigten Staaten und Deutschland bereiten schon dieses Jahr die Basis für die Akademie im Jahre 2024 vor, indem im Laufe der diesjährigen Akademie die Frage erörtert wird: Was ist eine Akademie?
Abt Barnabas und der Klostergemeinschaft danke wir für die herzliche Gastfreundschaft und die tatkräftige Unterstützung für dieses Vorhaben!
Erste Eindrücke
Es ist 10:30 Uhr, Treffpunkt Hauptbahnhof München. Um uns herrscht Trubel, Menschen eilen zwischen den Gleisen auf der Suche nach dem Richtigen Weg umher. Wir beginnen unseren abenteuerlichen Weg Richtung Ettal, trotz Schienenersatzverkehr funktioniert alles reibungslos. Drei Stunden später Ankunft im Kloster. Als wir durch die Tore schreiten und unser Blick auf der wunderschönen Klosteranlage / Kirche zum Ruhen kommt, wissen wir, wir haben es geschafft. Wir haben die Hektik der Stadt hinter uns gelassen. Staunend blieben wir im Hof stehen und lassen das imposante Gebäude mit seiner mystischen Umgebung auf uns wirken. Ganze drei Wochen dürfen wir diesen besonderen Ort genießen, dürfen die Ruhe aufsaugen und mit der Akademie beginnen zu fragen: Ist weniger manchmal mehr? Können wir mit einem nachhaltigen Lebensstil genau so erfüllt sein?
Nach einer kurzen Führung durch die Anlage, die Aufteilung der Zimmer und weiterem Staunen aus unserem Aufenthaltsraum heraus, beginnen wir eine kleine Erkundungstour durch Ettal. Aus allen Winkeln betrachten wir das Kloster und entdecken kleine Cafés und natürlich den Biergarten im Klosterhotel.
Die Anstrengung der Reise fällt langsam von uns ab und wir merken, wie die Ruhe des Ortes beginnt auf uns überzugehen. In den kommenden Tagen soll viel geschehen: wir werden Berge erklimmen und Diskussionen entfachen, werden uns mit verschiedenen Kulturen auseinandersetzen, von den alten Griechen bis zu dem modernen jedoch zurückgezogenen Leben der Mönche. Und schon am ersten Abend lässt die Bergluft die Köpfe frei werden und Diskussionen über Fairness und Macht entbrennen.
Wenig später ist es soweit und wir dürfen die Kirche von innen betrachten. Ehrfürchtig sitzen wir auf den Bänken und erfahren von Florian Bauer wie Kaiser Ludwig dem Bayern die Kirche gründete und was auf den Gemälden zu sehen ist.
Alltag im Kloster
Man hat uns beigebracht, dass Mönche ein einfacheres Leben führen als die meisten anderen, um besser mit Gott in Verbindung zu stehen. Als Studenten haben wir ein Leben der Bequemlichkeit gelebt - jedes Geschäft oder Restaurant hat jederzeit geöffnet.
Als Zentrum unseres Programms befinden wir uns die meiste Zeit hier im Kloster, passen uns an die Routinen der Mönche an und bewohnen das alte Internat. Unsere Zimmer sind mit allen Notwendigkeiten ausgestattet und der Musikraum garantiert ein gemütliches Zusammensein.
Nach und nach lernen wir immer mehr Regeln und Abläufe der Mönche kennen. In einer Tour des Klosters konnten wir aus erster Hand erfahren, wie die Mönche mit ihrer Brauerei Geld für das Kloster erwirtschaften. Dazu durften wir über die Prozesse der Produktion und Distribution der Produkte in Erfahrung bringen und damit neue Bereiche des Kloster-Alltags kennenlernen.
Als wir nach Ettal kamen, haben wir als Teil des Programms die meisten Tage sowohl Frühstück als auch Abendessen hier gegessen. Die Ernährung im Kloster half uns dabei, unserem Überfluss zu überwinden. Schnell wurde es wieder etwas Außergewöhnliches und Feierliches, wenn abends etwas Besonderes aufgetischt wurde. Bei den Mahlzeiten geht es jetzt mehr um die Gespräche, die wir führen und weniger um die Gerichte auf unseren Tellern. Auch wenn es für einige schwierig war eine bestimmte Diät einzuhalten, so hat es uns allen gezeigt, dass weniger tatsächlich mehr sein kann. Wertschätzung kommt von der Perspektive, und durch diesen Bestandteil des Programms haben wir das aktiv gelernt.
Zurück zur Natur
Die Philosophie des „Less is More“ führt unweigerlich in die Natur zurück. Der Aufenthalt in Ettal eröffnet vielseitige Möglichkeiten für Spaziergänge und Wanderungen. Abende im Tal mit Blick auf die Landschaft führen zu gemeinsamen Diskussionen über Fügungen, Dankbarkeit und Lebenswege. Die Inhalte unserer Akademie verschwimmen mit der Landschaft um uns herum. Durch die körperliche Bewegung in der Natur bewegen sich unsere Gedanken und Diskussionen voran. Als Begegnungszentrum der Academy kommen wir immer wieder in den alten Musikraum zurück. Mit Blick auf die nebelbehangenen Berge im Westen und den Innenhof des Klosters im Osten tauschen wir uns dort über neu gewonnene Eindrücke und Erfahrungen aus.
Gemeinschaft
Nach einem langen Tag voller körperlicher und geistiger Wanderungen sind alle müde, wollen aber noch nicht auf ihre Zimmer gehen. Plötzlich fällt jemandem ein, dass das Wohnzimmer, in dem wir sitzen, nicht umsonst "Musikzimmer" heißt. Einer von uns läuft los, um seine Gitarre zu holen und Prof. Söder holt die Kerzen heraus, die er mit Bedacht gekauft hat. Der Kronleuchter geht aus und der Saal wird in eine mystische Atmosphäre getaucht, sodass nur noch das schwache Kerzenlicht die Dunkelheit bekämpft. Der Gitarrist beginnt zu spielen. Er singt ein Lied in fremder Sprache über ein fernes Land, in das er träumt eines Tages zurückzukehren. Obwohl die genaue Bedeutung des Liedes den meisten der Anwesenden ein Rätsel bleiben wird, lassen Rhythmus und Intonation jeden von uns an jene Orte und Zeiten denken, die für immer vergangen sind und uns nur als Erinnerung bleiben.
Doch dann ist das Lied auch schon verklungen. Nach ein paar Sekunden des Nachdenkens wird das nächste Lied angespielt. Diese Melodie ist allen bekannt, manche kennen den Text auswendig und andere beeilen sich ihn nachzuschlagen. Nun erklingt der Refrain und der Klang einer Stimme verschmilzt mit vielen. Die Anwesenden sehen sich an und sehen in der Spiegelung ihrer Augen das Leuchten der Kerzen. Wir alle spüren, dass wir durch die Zeit hier zu einer Gemeinschaft geworden sind, auf der die Akademie aufbauen kann. Von dieser Erfahrung gestärkt, gehen alle zu Bett, um sich zu erholen und ausgeruht in den neuen Tag zu starten.
Akademische Impulse
Wir hatten das große Glück neben den Räumlichkeiten auch das in Ettal geballte Wissen für unser Studium verschiedener Traditionen und unterschiedlicher Lebenswelten nutzen zu können. So haben wir den Altgriechisch Kurs von Roland Jurgeleit im Gymnasium besucht. Die Schüler sprachen Deutsch und wir Englisch, aber was uns verband, war das Altgriechische und in diesem Begegnungsraum des Klassenzimmers konnten wir alle unsere Sichtweise auf die Übersetzungen darlegen. Wir kamen in ein sehr interessantes Gespräch mit den Schülern über das "Ungeheuere" und wie es sich im Englischen unterscheidet. Wir haben viel darüber gelernt, wie unterschiedlich die drei Sprachen über den Menschen und seinen Einfluss auf die Welt denken. Solche Fragen spielen eine wichtiger Rolle in der Arbeit unserer Akademie und sind Teil unserer Bestrebungen nach einem gegenseitigen Verständnis.
Der Raum in Ettal hat uns auch durch die Kurse geholfen, die wir über "Island: Sprache, Kultur, Mythen" mit Jonas Bokelmann absolviert haben. Neu gewonnene Erfahrungen mit der isländischen Sprache haben uns geholfen, Verbindungen zur deutschen Sprache zu erkennen. Diese haben wir in einem Kurs unter Beteiligung des Fremdsprachen Instituts München näher kennen gelernt.
Raum und Zeit
In unserer Akademie kreisen viele unserer Erfahrungen und Gespräche um das Thema Raum und Zeit. Raum und Zeit sind nicht nur die Grundlage unserer menschlichen Erfahrung: Professor Dr. Söder hat uns ermutigt zu untersuchen, wie dieser spezifische, lokale Raum im Kloster Ettal unsere Wahrnehmung beeinflusst hat, was uns in unserem täglichen Leben begegnet. Es gibt, wie Prof. Söder sagte, viele Arten von Raum und Zeit: Es gibt die Zeit der Klosterglocken, die Zeit des Zugfahrplans, die digitale Zeit, die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang und die landwirtschaftliche Zeit. Und obwohl all dies wie verschiedene Messungen ein und derselben Sache erscheinen mag, wirkt sich jede Art von Zeit auf völlig unterschiedliche Weise auf unsere Wahrnehmung aus.
Ebenso gibt es viele Arten von Raum: den Raum zwischen mir und diesem massiven Berg, den Raum des Altars und den Raum im Herzen eines Menschen. Es ist wichtig, darüber nachzudenken, wie sich Raum und Zeit auf uns auswirken, denn wir werden ständig unbewusst von der spezifischen Art von Raum und Zeit geprägt, in der wir leben. Zum Beispiel bewegt sich im Kloster die Zeit nicht wie in München. Hier bekommt die Zeit den richtigen Raum, um sich natürlich zu entfalten und die Klosterglocken zeigen, dass die Zeit nicht nach unseren Wünschen in Bewegung gesetzt werden kann. Die Zeit kommt auf uns zu und nicht wir auf die Zeit. Auch der Raum kommt hier heilsamer zum Ausdruck: In Ettal bewegen wir uns nicht nur von Raum zu Raum wie in der Stadt, sondern von Berg zu Wiese und wieder zurück in die Berge. Der Raum hat hier eine andere Dimensionalität und lässt uns das gewaltige Ausmaß der materiellen Welt spüren. Das Leben im Kloster hat uns gezwungen, die Frage zu stellen: Wie beeinflussen die verschiedenen Arten von Raum und Zeit, die wir bewohnen, unser Streben nach einem erfüllten Leben?
Ausblick
In freudiger Erwartung blicken wir auf die kommenden Tage, in denen Murnau eine wichtige Rolle spielen wird und sich vieles um das „Forward Thinking“ drehen soll. Wir freuen uns, hier im Kloster Ettal verweilen zu dürfen und blicken optimistisch auf den Ausbau unserer zukünftigen Partnerschaft und unsere Rückkehr im nächsten Jahr.